Ältere Migranten und Selbstorganisationen
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Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Aufenthaltsdauer
2. Zur sozialen Lage älterer Migranten in der Bundesrepublik
2.1. Die Einkommens- und Wohnsituation
2.2. Alters- und Familienstruktur
3. Gesundheitliche Situation
3.1. Physische und psychische Probleme
4. Beitrag der Selbstorganisation
4.1. Informelle Netzwerke
4.2. Formelle Netzwerke
5. Wohlfahrtsverbände
5.1. Anforderungen der Wohlfahrtsverbände an die Politik
6. Schlußbetrachtung
Einleitung
In einem auf Rotation der angeworbenen Arbeitskräfte basierenden wirtschaftspolitischen Konzept war das Altern nicht vorgesehen. Auch als sich die Rotation als wirtschaftlich ineffizient und daher nicht wünschenswert herausstellte und in Folge dessen 1973 der Anwerbestop verhängt wurde, wurden diesbezüglich keine wie auch immer gearteten Überlegungen angestellt. Es wurde weiterhin davon ausgegangen, daß die ins Land geholten Arbeitnehmer im Alter in ihre Heimat zurückkehren würden. Auch der Lebensentwurf der Migranten war auf die Rückkehr ausgerichtet. Die meisten von ihnen rechneten noch nicht einmal damit, so lange in der Bundesrepublik zu verweilen. Es ging darum in möglichst kurzer Zeit eine genügende Menge an Ersparnissen zu erarbeiten, die den Aufbau einer Existenz in der Heimat ermöglichen sollte.
Der größte Teil der Migranten ist auch tatsächlich in ihre Ursprungsländer zurückgekehrt. Kenntnisse einer neuen Sprache und Kultur, Ausbildung, etc. sind nicht die einzigen Ressourcen, die ihnen dabei geholfen haben, eine eigene Existenz aufzubauen; nicht zu vernachlässigen ist hierbei insbesondere das finanzielle Kapital. Dennoch ist ein beträchtlicher Teil von Migranten auch hier geblieben, denn Rückkehr war nicht immer möglich und vor allen Dingen nicht immer gewollt. Hierfür gab es diverse Gründe. Mit der Familienzusammenführung verlagerte sich der Lebensmittelpunkt automatisch in die Bundesrepublik. Hier waren der Ehepartner und die Kinder. Die zweite Generation wuchs und wächst hier heran und denkt an die Reemigration meistens nur unter Voraussetzungen, die nicht erfüllt werden können. Insbesondere die Mütter wollen in vielen Fällen nicht fernab von ihren, wenn auch schon erwachsenen Kindern leben und zurückkehren. Andererseits gibt es eine Reihe von Hindernissen, die sich dem Verbringen des Lebensabends im Ursprungsland entgegensetzen. Die sozialen Verhältnisse und die staatliche Gesundheitsversorgung in der Heimat wären als erstes zu nennen. Fast keines der Länder, in dem Arbeitskräfte angeworben wurden, verfügt über ein so gut ausgestattetes Sozialsystem wie die Bundesrepublik. Familienangehörige, die diese Funktionen übernehmen könnten, sind nicht immer da und auch nicht immer in der Lage dieses zu tun. Auch in diesen Ländern hat sich die traditionelle Gesellschaft mit den entsprechenden Folgen modernisiert und informelle soziale Versorgungsstrukturen funktionieren schon lange nicht mehr so wie früher. Direkte Folge ist, daß die ersten Arbeitsmigranten mittlerweile das Rentenalter erreicht haben, und viele von ihnen verweilen noch immer in der Bundesrepublik. Somit wird die Gruppe der älteren Migranten immer größer, ein Umstand der erst seit Kurzem wahrgenommen wird.
Dieser Gruppe, die zwar nicht den größten aber dennoch einen beträchtlichen Teil ausmacht, wollen wir uns auf den folgenden Seiten widmen, ihre Lage darstellen, und aufzeigen welche Rolle und Aufgaben die Selbstorganisationen und andere in die Migrationssozialarbeit involvierte Institutionen übernehmen müssen.
1. Aufenthaltsdauer
Die Aufenthaltsdauer von Migranten in der Bundesrepublik zeigt generell zwei Tendenzen auf. Am Beispiel einerseits der Griechen und Spanier, die zu einem großen bis sehr großem Anteil schon über 20 und sogar 30 Jahre hier leben und andererseits der türkischen Bevölkerung, die auf Grund der Familienzusammenführung im Durchschnitt eine weitaus niedrigere Aufenthaltsdauer aufweist, die aber zum größten Teil auch die 10 Jahre übersteigt, wird deutlich wie lange Migranten schon in Deutschland leben, Mehrländer, Ascheberg und Ueltzhöffer sprechen in ihrer 1995 durchgeführten Studie von einer “bedeutenden Strukturveränderung […]: der deutlich gestiegenen durchschnittli-chen Aufenthaltsdauer der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen insgesamt, der damit verbundenen Alterung der Ausländerpopulation und der Tatsache, daß immer mehr in Deutschland lebende Ausländer hier geboren sind.” Daraus erfolgt demographisch gesehen die schrittweise Normalisierung der Population aus-ländischen Ursprunges.
Der Aufenthaltsstatus der Migrantenbevölkerung entspricht nicht immer ihrer Aufenthaltsdauer. Bürgern aus den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union fallen unter das Freizügigkeitsprinzip von Waren, Dienstleistungen und Arbeitskräften, welches schon in den Römischen Verträgen festgelegt wurde. Diese machen aber den geringeren Teil unter den Migranten aus. Von den knapp 7 Millionen beim Ausländerzentralregister in Köln eingetragenen Bürger ausländischer Staatsangehörigkeit gehören nur 1,7 Mill., also ca. 25% einem anderem Mitgliedsstaat der EU an. Insgesamt, um mit den Worten der Ausländerbeauftragten der Bundesregierung zu sprechen, “wenn man berücksichtigt, daß ein verfestigter Aufenthaltsstatus eine wichtige Voraussetzung für eine erfolgreiche Integration ist, dann muß hier weiterhin ein Defizit konstatiert werden.”
Das Verbleiben in der Bundesrepublik war, wie bereits in der Einleitung erwähnt, so nicht intendiert. Aus diesem nicht geplanten längerem bzw. teilweise auch ständigem Aufenthalt ergeben sich eine Reihe von Charakteristika für diese Bevölkerungsgruppe, auf die in den folgenden Kapiteln näher eingegangen wird. Hinzu kommt, speziell für die älteren Migranten, um die es hier geht, daß ”Untersuchungen […] ergeben [haben], daß das kommunale Alten-hilfesystem die älteren Migranten als Bedarfs- und Problemgruppe nicht wahrnimmt und folglich keine an den Bedürfnissen der Betroffenen orientierte Strategien und Angebote entwickelt”.
2. Zur sozialen Lage älterer Migranten in der Bundesrepublik
Konkrete Zahlen und Material über diesen Teil der deutschen Gesellschaft zu finden, hat sich als ein besonders schwieriges bzw. unmögliches Unterfangen erwiesen. Es gibt natürlich die Zahlen über die Anzahl, die Staatsangehörigkeit, Geschlecht, etc. Aber im Allgemeinen mangelt es an Konkretem aus der empirischen Forschung Gewonnenem. Die Gruppe der älteren Migranten läßt sich daher in den meisten Fällen nur schwer oder gar nicht aus den Ziffern und zahlreichen Statistiken diverser Institutionen herausfiltern. Ganz wenige sind daran interessiert zu erfahren, was aus den angeworbenen Arbeitskräften geworden ist, wenn sie einmal das dritte Lebensalter erreicht haben und weiterhin in der Bundesrepublik verbleiben. Auch handelt es sich hierbei um ein Thema, welches nun auf Grund des zahlenmäßigen Umfangs, den diese Gruppe mittlerweile einnimmt, besonders in Erscheinung tritt. Die konkreten Bedürfnisse können nur mittels einer dezidierten Bestandsaufnahme ermittelt werden. „Dazu sind statistische Sondererhebungen nötig, die Faktoren wie die Haushaltsstruktur ausländischer Familien, die Wohnsituation und den Sozialhilfebezug berücksichtigen. Lösungen ohne eine institutionelle Kooperation zwischen der Kommune, dem Altenhilfebereich und der verbandlichen Ausländerarbeit werden oberflächlich bleiben.“
Das in diesem Kapitel dargestellte Material ist daher noch sehr vorläufig und bedarf, wie bereits erwähnt, einer intensiveren Beschäftigung. Es gibt trotzdem einige Punkte, die sich direkt aus der inzwischen durchaus etwas besser bekannten allgemeinen Lage der Migranten ergeben.
2.1. Die Einkommens – und Wohnsituation
Aus der Situation der älteren Migranten beim Ausscheiden aus dem Erwerbsleben ergeben sich spezielle Bedürfnisse, die zu denen der deutschen Senioren hinzukommen. Dieses hat mehrere Ursachen.
Als wichtigste sind die niedrigen Renten zu nennen, die sich zum einen aus reduzierten Beitragszeiten und zum anderen aus geringen Beiträgen ergeben, die sich aus den ausgeübten Tätigkeiten ergeben. Sie sind direkte Folge der un- und minderqualifizierten Beschäftigungen, die die meisten Migranten ausgeübt haben, da die Chancengleichheit in der sozialen Mobilität nicht so gegeben war, wie bei den einheimischen Arbeitnehmern. Besonders Frauen, die entweder im Zuge der Familienzusammenführung oder nach kurzem Arbeitsleben die Betreuung der Familie übernommen haben, fehlen oft die entscheidenden Versicherungsjahre. Die hiesigen Beitragszeiten können natürlich mit denen aus der Heimat ergänzt werden, wobei sich hier in einem nicht unerheblichem Maße das Problem der fehlenden und viel niedrigeren Beiträge bemerkbar macht. Insbesondere für agrarische Tätigkeiten wurden keine oder nur sehr geringe Beiträge abgeführt. Dieses hat zum einen seine Ursache in der Höhe der Beiträge und somit auch der Höhe auszuzahlender Rentenbeträge, die nicht in allen Ländern deutschen Standards entsprechen, weil die vorhandenen Ressourcen dieser Länder knapper sind als die der Bundesrepublik. Zum anderen ist es auch nicht selten, daß der frühere Arbeitgeber im Heimatland zwar behauptete, Sozialversicherungsbeiträge abzuführen, dieses aber dann doch nicht tat. Die meisten Länder, insbesondere die der EU, haben inzwischen für die heimische Bevölkerung Lösungen für diese Probleme finden können, aber die Ausgewanderten kommen selten in diesen Genuß, da es sich um freiwillige, also nicht auf Beiträgen beruhenden Sozialleistungen des Heimatlandes handelt.
Dietzel-Papakyriakou und Obermann führen als Beispiel, “die ins Inland ausgezahlten Rentenbeiträge aus der Arbeitnehmerrentenversicherung [an][…]: sie betrugen nach der Rentenbestandstatistik des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger bezogen auf das Jahr 1994 bei den türkischen Männern monatlich 1005 DM und bei den türkischen Frauen 663 DM. Im Vergleich dazu lagen die entsprechenden durchschnittlichen Rentenbeträge bei den deutschen Männern bei 1709 DM und bei den deutschen Frauen bei 700 DM.”
Ein weiteres Problem mit dem sich die Migranten beim Ausscheiden aus dem Erwerbsleben konfrontiert sehen, ist die Pflegeversicherung. Sie ist einmalig in der ganzen Europäischen Union und einmalig ist auch die Regelung in Bezug auf mögliche Leistungen, die daraus zu finanzieren sind. Im Gegensatz zu anderen Pflichtleistungen der Träger sind diese nämlich nicht exportierbar. D.h. die Arbeitnehmer haben zwar die Pflicht in die Pflegekassen einzuzahlen, wie es bei der Rente-, der Kranken- und der Arbeitslosenversicherung der Fall ist, aber diese Leistung kann nicht im europäischen Ausland bezogen werden, da es sich um eine in der Bundesrepublik existierende soziale Institution handelt. Dieses hätte für alle Migranten, die nach dem Bezug ihrer Rente in ihre Heimat zurückkehrten den Nachteil, Beiträge geleistet zu haben, aber nicht in den Genuß von Leistungen kommen zu können. In einem Urteil vom 5. März 1998 hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) erklärt, das Gesetz zur deutschen Pflegeversicherung verstoße gegen Europarecht. Denn dieses Recht schreibt vor, daß Sozialleistungen auch in anderen EU-Staaten bezahlt werden müssen. Zwar gilt dieses nur für Sachleistungen, die das nationale Recht am Wohnort vorsieht, aber für Geldleistungen gilt das deutsche Recht uneingeschränkt. Dieses würde bedeuten, daß die deutschen Pflegekassen Geldleistungen ins europäische Ausland transferieren müßten und so die Betroffenen das Pflegegeld erhalten.
Daher ist die soziale Lage der Migranten im Rentenalter oft durch Armut gekennzeichnet. Hieraus können sich auch Auswirkungen ausländerrechtlicher Art ergeben, denn ”das geltende Ausländerrecht bietet auch den Migranten, die schon viele Jahre in Deutschland leben, nicht grundsätzlich ein sicheres Bleiberecht. Der Bezug von Sozialhilfe – unabhängig von der Art der Leistungsgewährung – als besonderen Ausweisungsgrund nach § 46 AuslG trägt zur Verunsicherung […] bei.”
Die niedrigeren Einkommen haben direkte Auswirkungen auf die Wohnverhältnisse. In Berlin als großstädtischem Ballungszentrum, mit einer Anzahl an Einwohnern aus der Türkei, die einer Kleinstadt entspricht, ist die Situation exemplarisch. “Die knappen Renten lassen sich mit den hohen Mieten kaum vereinbaren. […] Viele ältere Immigranten wohnen auch in Wohnungen die sonst schon kaum zugänglich sind, für alte Menschen jedoch vielfache Schwierigkeiten mit sich bringen. Modernisierter, standardmäßiger Wohnraum […] ist jedoch für diesen Personenkreis oft nicht finanzierbar. Große Wohnungen, in denen große Familien zusammenleben könnten, gibt es kaum.” Bei einem vom Bundesverband spanischer sozialer und kultureller Vereine organisierten Treffen kamen diese und andere Probleme zur Sprache.
Hier einige Zitate:
- “Die Wohnung, in der wir 20 Jahre lang gewohnt haben, konnten wir uns nicht mehr leisten und mußten in eine andere, viel schlechtere umziehen.“
- “Wir haben immer ein Auto gehabt. Aber seitdem ich in Rente gegangen bin, können wir uns das nicht mehr leisten. Dadurch werden wir in der Möglichkeit, unsere Kinder, Freunde oder Verwandte zu besuchen, erheblich eingeschränkt.“
- “Als ich arbeitete, lebte ich von meiner Arbeit. Jetzt, im Alter, muß ich zum Sozialamt gehen, damit man mir hilft.“
- “Unsere Lage ist ganz anders als die der Deutschen. Die Deutschen bekommen zwei Renten: die des Mannes und die der Frau. Wir müssen mit meiner Rente auskommen, weil meine Frau nie berufstätig war.”
Direkte Folge davon ist, daß ältere Migranten in noch höherem Maße als die Jüngeren unter ihnen in Wohngebieten mit einem hohen Anteil an renovierungsbedürftiger Bausubstanz wohnen. Die Entwicklung der Mieten erlaubt es ihnen nicht, in andere Stadtteile zu ziehen. Solche Stadtteile mit hohem ausländischem Einwohneranteil kennzeichnen sich hauptsächlich durch eine hohe Wohndichte. Die Boulevardpresse u. ä. benutzt in solchen Fällen schnell das Schlagwort „Ghetto”, die auftretenden Probleme werden den Migranten zugeschrieben und nicht einer inadäquaten Infrastruktur. Diplomatenviertel oder ganze Straßenzüge, in denen zum Beispiel nur Studenten wohnen, werden nicht als solches bezeichnet. Die in den sogenannten „Ghettos” vorherrschenden „Probleme” ergeben sich aber aus der vorherrschenden Armut in diesen Vierteln, einer nicht der Wohndichte angemessenen Serviceleistung der Kommune und dem von Spekulanten beabsichtigtem Zerfall der Baustruktur. „Derart ungünstige Wohnverhältnisse stellen jedoch mit zunehmendem Alter und sich verschlechterndem Gesundheitszustand eine wachsenden Belastung dar und erhöhen die Abhängigkeit von fremder Hilfe. Unzureichende und beengte Wohnverhältnisse beschränken zudem die Hilfe- und Unterstützungsmöglichkeiten durch ambulante Dienste und Familienangehörige und können eine häusliche Versorgung vorzeitig unmöglich machen.”
2.2. Alters- und Familienstruktur
Im Laufe der Jahre hat sich die demographische Struktur der Migrantenbevölkerung stark verändert. Im allgemeinen wird davon ausgegangen, daß Migration die herkömmliche und traditionelle Familienstruktur beeinträchtigt, jedenfalls schneller als dieses der Industrialisierungsprozeß ohnehin im Laufe der Etablierung in der hiesigen Gesellschaft tut. Dieses muß aber nicht unbedingt so sein.
Zuerst kamen nur junge und vorwiegend männliche Migranten nach Deutschland, sie wurden mit Arbeitsverträgen in ihrer Heimat direkt angeworben. 1973 wurde der sogenannte Anwerbestop verhängt. Es wurde behauptet, daß der deutsche Arbeitsmarkt gesättigt war. Von da an durften nur direkte Familienangehörige in die Bundesrepublik einreisen. Die Familienzusammenführung begann und damit ging eine gewisse Normalisierung der demographischen Struktur der Migrantenbevölkerung einher.
Diese Entwicklung ist aber nicht in allen Nationalitäten gleich. Sie ist natürlich bei den «älteren» also schon länger in der Bundesrepublik lebenden Migranten ausgeprägter als bei den «jüngeren». ”Gliedert man die älteren Ausländer (60 Jahre und älter) nach Nationalitäten bzw. Kontinenten, dann zeigen sich beträchtliche Unterschiede. Während 9,6% aller EU-Ausländer, 6,6% der Polen und 5,9% der Personen mit jugoslawischer Staatsangehörigkeit über 60 Jahre alt sind, haben nur 4,5% der Rumänen, 4,1% der Türken, 3,3% der Asiaten und 2,9% der Afrikaner bereits dieses Alter erreicht.”[8] Bei den in der Bundesrepublik lebenden Spaniern handelt es sich laut Aussage der Spanischen Weiterbildungsakademie sogar schon um 23% der spanisch sprechenden Bevölkerung, die 55 Jahre und älter sind.[9]
3. Gesundheitliche Situation
Das Fehlen einer adäquaten Betrachtungsweise, die das Migrationsgeschehen in die Erarbeitung von politischen und sozialen Konzepten für die Gesellschaft mit einbezieht, ist auch auf dem Gebiet der gesundheitlichen Versorgung von Migranten zu spüren, insbesondere für den in diesem Text angesprochenen Personenkreis, ältere und älterwerdende Migranten. Es gibt keine auf sie zugeschnittene, ihren speziellen Bedürfnissen entsprechende, medizinische Versorgung. „Man hat bis heute weder präventiv noch kurativ irgend etwas dagegen getan, um den wesentlich höheren Krankenstand ausländischer Einwohner zu verstehen und zu beheben. Wir haben es seit 1975 mit einem bedeutend schlechterem Gesundheitszustand zu tun als bei Deutschen vergleichbarer Sozialschicht, und wir sehen, daß mit der Dauer ihres Aufenthaltes in Deutschland sich ihr Gesundheitszustand mehr und mehr verschlechtert und dies gegen die bisherigen Annahme, daß er sich im Laufe der Jahre verbessern würde.“ In Anbetracht des dürftigen sowohl statistischem als auch sonstigen quantitativem wissenschaftlichem Materials ist es ein Gebot, Aussagen dieser Art zu relativieren. Bedacht werden muß hierbei, daß „neben dem allgemeinen Alternsprozeß […] Belastungen in früheren Lebensphasen den Gesundheitszustand im Alter entscheidend [mitprägen].“ Dieses ist bei den Migranten der ersten Generation durchaus der Fall. In der bereits zitierten Untersuchung von Dietzel-Papakyriakou und Obermann wird ebenso auf die „eher negative Einschätzung des eigenen Gesundheitszustandes“ hingewiesen. Bei der Bewertung des Ge-sundheitszustandes sollte daher auch nicht vergessen werden, Migration als sozioökonomisches Phänomen zu betrachtet, welches eigentlich größtenteils auf die sich aus der Dichotomie Peripherie – Zentrum resultierenden Unterschiede basiert.
Über den Gesundheitsaspekt der Migranten in der Bundesrepublik verfügen aber weder das Bundesministerium für Gesundheit noch die Krankenkassen oder die meisten anderen für die Gesundheit verantwortlichen Institutionen diesbezüglich, laut eigenen Auskünften, über Zahlen oder sonstiges verwertbares Material. Auf entsprechende telefonische Nachfragen nach dem Gesundheitszustand von Migranten insbesondere älteren Migranten wurde darauf hingewiesen, daß es entweder “uninteressant” oder “diskriminierend”, wäre nach der Variable der Staatsangehörigkeit Analysen durchzuführen.
Bei älteren und älterwerdenden Migranten können sich die Probleme potenzieren, da ”ältere Migranten alle Probleme älterer Arbeiter aufweisen (Berufskrankheiten, schlechte Versorgung, schlechte Wohnbedingungen), und bei ihnen jedoch noch einige hinzukommen: u.a. zunehmende Rückkehr zur Muttersprache im Alter, Tendenz zur Isolierung, weil Freunde zurückkehren sowie das Gefühl von Nutzlosigkeit.” Geeigneter wäre es von einer Potentierung der Bedürfnisse zu sprechen, wobei beachtet werden sollte, daß Einsamkeit und Gefühle der Nutzlosigkeit auch unter deutschen Senioren zu finden sind. Die Rückkehr in die Muttersprache erweist sich hingegen natürlich als Problem, wenn die schützenden Räume, die die eigenen Kolonie bietet, verlassen werden müssen.
3.1. Physische und psychische Folgen der Migration
Wie bereits erwähnt ist es kompliziert, konkrete Zahlen über den Gesundheitszustand der Migrantenbevölkerung zu erhalten. Eine diesbezügliche Studie vom Wissenschaftlichen Institut der Ärzte Deutschlands e.V. veröffentlicht Zahlen zu diesem Thema aus denen zusammenfassend folgendes für die gesamte Population von Migranten ersichtlich wird:
- eine höhere Sterblichkeitsrate für Säuglinge, Kleinkinder und Schulkindern
- eine niedrigere Teilnahme an rehabilitierenden medizinischen Maßnahmen nach Unfällen; damit einhergehend eine niedrigere Entschädigungsrate bei Arbeitsunfällen sogenannter ausländischer Arbeitnehmer
- Höherer prozentualen Anteil an Tuberkulosefällen und an HIV- und AIDS-Infizierten
Es wird oft behauptet, daß Migration auch Auswirkungen auf die psychische Gesundheit hat. Sicher ist, daß diese stark von der Akzeptanz abhängig ist, die die Personen von ihrem sozialen Umfeld erfahren. Hier können die Kolonien dem eventuellen negativen Einfluß des größten Teils der Aufnahmegesellschaft sicherlich ein wirksames Gegenmittel entgegensetzen, da dieser Mikrokosmos größtenteils soziale Strukturen, Traditionen und Werte aus der Ursprungsgesellschaft nicht nur wiedergibt, sondern auch auf einem zeitlich zurückliegendem Zustand konserviert. Im Inneren der Kolonie gibt es keine Kommunikationsprobleme, die auf Unkenntnis der Sprache basieren. Aber auch andere Faktoren haben Einfluß. Laut Definition der WHO (Weltgesundheitsorganisation der Vereinten Nationen) ist Gesundheit nicht nur die Abwesenheit von Krankheit sondern auch von sozialem und psychischem Wohlbefinden geprägt. Über dieses Themengebiet stehen noch weniger Daten zur Verfügung, als über das vorhergegangene des allgemeinen Gesundheitszustandes. Bedacht werden müssen hierbei der Studie des WIAD folgend die anschließenden Aspekte:
- die Beziehung zwischen Migration und mentalen Krankheiten;
- der sozio-kulturelle Hintergrund und die linguistischen Kommunikationsmöglichkeiten über die diese Personengruppe verfügt bzw. nicht verfügt;
- Arbeitskonditionen in der Aufnahmegesellschaft;
- Lebenskonditionen im Aufnahmeland;
- Wechsel und Einflüsse von Außen auf die eigenen Werte und Traditionen, die plötzlicher, schneller und vor allen Dingen anders von statten gehen, als im Heimatland zur Zeit der Auswanderung gewohnt; daraus ergibt sich die Notwendigkeit nach mehr Kommunikation mit der Heimat, um die neuen Werte, die sich natürlich auch dort aus den meistens stärkeren, weil nun schnelleren Modernisierungsprozessen ergeben können, akzeptieren zu lernen;
- Mangel an einer adäquaten medizinischen Versorgung;
- Rechtlicher Status der Eingewanderten;
- Sozialgesellschaftliches Umfeld.
Nach vereinzelten und reduzierten Studien ist vor allen Dingen eine Somatisierung von psychischem Unwohlsein zu beobachten. Ergo äußern sich mentale Schwierigkeiten mittels körperlicher Beschwerden. Vor allen Dingen “die Anzahl an Fällen (also die Möglichkeit psychisch krank zu werden) wächst augenscheinlich mit der Dauer des Aufenthaltes im Ausland”: d. h. Depressionen und andere Krankheiten am Anfang der Migrationsphase mit fortschreitender Aufenthaltsdauer. Für diesen Fall kann die Rolle der Migrantenselbstorganisationen nicht genug betont werden, denn durch ihre Aufklärungsarbeit und die Beschäftigung mit derlei Problemen, was zweifelsohne zum Teil auch von den Migrationsdiensten der jeweiligen Wohlfahrtsverbände geleistet wird, werden diese Art von Problemen sicherlich stark reduziert.
Krankheit und Gesundheit sind Phänomene, die auch von gesellschaftlichen Definitionen abhängig sind. “Ältere Migranten machen uns ein wertvolles Angebot. Keine andere Gruppe gibt uns so viele Anlässe, unseren Begriffsapparat zu überprüfen. Zur Diskussion stehen vor allem Konzepte von «Gesundheit», «Altern» sowie «Kultur».”[8] Hierbei handelt es sich nicht nur um kulturelle Differenzen, sondern auch um die Entwicklung, die eine immer technisiertere und modernisiertere Schulmedizin der urbanen und postmodernen Gesellschaft hervorbringt.
4. Beitrag der Selbstorganisation
Selbstorganisationen, insbesondere die mit einem sozialpolitischem Anspruch, entstehen häufig aus einem Spannungsverhältnis zwischen Staat und Gesellschaft. Unter bestimmten Voraussetzungen, als da wären die Aspekte der Organisation, des Defizits und der Distanz, organisieren sich Teile der Gesellschaft dann selbst. Die Selbstorganisation möchte damit (Organisationsaspekt), bestimmten sogenannten Mißständen (Defizitaspekt) entgegenwirken, weil die normalen politischen Prozesse diese nicht erkennen oder erkennen wollen. Dadurch, das man selbst politische Artikulationsformen sucht, distanziert man sich von den etablierten politischen Prozessen (Distanzaspekt), und hegt in diesen Selbstorganisationen ein gesundes Maß an Mißtrauen gegenüber diesen Institutionen und seinen Instanzen. Das Aufkommen von Selbstorganisationen setzt immer ein Defizit der politischen Prozesse und ihren etablierten Instanzen und Institutionen (Parteien, Verbände, Verwaltung) gegenüber der Gesellschaft voraus. In diesem Sinne gilt Partizipation über die Selbstorganisation als die subjektive Seite des Demokratisierungsprozesses einer Gesellschaft. In einer Demokratie pflegen sich die objektive, etablierte Partizipationsformen, und die subjektive Seite zu ergänzen. Oftmals erfolgt aus letzterer die Forderung nach Beteiligung an den etablierten politischen Entscheidungs- und Gestaltungsprozessen. Es kann dann durchaus eine politische Etablierung folgen, wie die Entstehungsgeschichte der Partei der Grünen in der Bundesrepublik sehr gut darlegt. Die meisten Selbstorganisationen der Migranten sind basisdemokratisch organisiert und bilden eine neue Form der sozialen Bewegung. Hauptmerkmal ist nicht nur die Kritik an den Dysfunktionen des politischen und sozialen Systems, die sie ausüben, sondern auch ihre Fähigkeit, konstruktive, Gegenentwürfe vorzulegen.
Zeitgleich mit der Einwanderung von Arbeitsmigranten in die Bundesrepublik Deutschland wurden die ersten Selbstorganisationen gegründet (nach § 14 VereinsG) und gewinnen im Zuge der Entfaltung des soziopolitischen Phänomens der Bürgerinitiativen seit Ende der 70er an Kontur. Kennzeichnend für diese Organisationen ist, daß der formelle innere Aufbau “…und die Zuständigkeiten der einzelnen Vereinsorgane […] den aus dem hiesigen Vereinsrecht abgeleiteten Mustersatzungen” folgen. Die Vorstände dieser Selbstorganisationen bestanden und bestehen größtenteils aus Personen, die schon lange in Deutschland leben und neben den sprachlichen Voraussetzungen, auch über andere Kenntnisse über die deutsche Gesellschaft verfügten, und deswegen als Mittler auftreten könnten. Veranstaltungen zur Pflege und Erhaltung der eigenen Kultur und soziale Dienstleistungen waren die ersten Betätigungsfelder der Selbstorganisationen. Somit sind sie in der Lage, eine Schutzfunktion zu erfüllen und gleichzeitig als Ort der Umorientierung und Hilfeleistung für die Neuankömmlinge zu dienen.
Im Laufe der Zeit haben die Selbstorganisationen die Fähigkeit zur Zusammenarbeit untereinander und mit anderen deutschen Gruppen unter Beweis gestellt. So haben sie sich nicht nur ethnisch bundesweit zusammengeschlossen, sondern auch in multinationalen Dachverbänden organisiert (BAGIV, ADR, usw.). Dadurch haben sie die Basis für eine wirkungsvolle Interessenvertretung, sowohl bei den deutschen Institutionen als auch in den Behörden des Heimatlandes, gelegt. In diesem Rahmen versuchen sie in sozialen und politischen Bereichen Einfluß zu nehmen. Dabei legen sie auf die Gebiete der Schulbildung, der politischen Rechte und der Antidiskriminierungsarbeit besonderen Wert und erfüllten immer eine Doppelfunktion. Sie fungieren als Mittler zwischen Herkunfts- und Aufnahmeland, denn die Interessen ihrer Mitglieder und der ganzen ethnischen Gruppe müssen sowohl gegenüber der Heimatregierung als auch gegenüber dem Aufnahmeland vertreten werden. Somit stellen die Selbstorganisationen eine reale partizipatorische Möglichkeit für Migranten dar, und gelten für einen großen Teil der Fachöffentlichkeit „…mittlerweile als notwendiger teilprofessioneller Bestandteil sozialer Gruppenarbeit mit und von […] Migranten Hinzu gesellen sich in den letzen Jahren aus Fachöffentlichkeit und Politik diejenigen, die Migrantenselbstorganisationen (…) politisch, kulturell und sozial als wesentlichen Partizipationsfaktor in der interkulturellen Gesellschaft unterstützt wissen wollen.“ In diesem Zusammenhang werden Selbstorganisationen als soziale Netze anerkannt.
Wie schon oben erwähnt verfolgen die Selbstorganisationen der Migranten in ihren Forderungen und Tätigkeiten nicht nur politische sondern auch soziale Ziele. Sie versuchten schon immer ihren Mitgliedern jegliche Art von Unterstützung und Versorgung zu gewährleisten, obwohl Sie nicht immer in der Lage waren (vor allem wirtschaftlich), dies zu tun. Der Arbeitssektor «Hilfe zur Selbsthilfe» ist ein wichtiger Primat der Selbstorganisation. Mit dem Eintritt der ersten Arbeitsmigranten ins Rentenalter kommen jetzt noch andere Aufgaben auf die Selbstorganisationen zu. Diesen dürfen und können sie sich nicht verschließen. Dabei sind diese Aufgaben ohne die Unterstützung der Altenhilfeinstitutionen, also der formellen Netzwerke, nicht zu bewältigen.
4.1. Informelle Netzwerke
Das informelle Netzwerk der Selbstorganisationen der Migranten ist als einziges Instrument in der Lage, die Probleme, denen die ersten Arbeitsmigranten, die ins Rentenalter kommen, ausgesetzt sind, zu erfassen und zu bündeln. Nach der eigenen Familie (wenn vorhanden) haben sie den besten Kontakt zu den Migranten, die mit ihrem Eintritt ins dritte Lebensalter nicht in die Heimat zurückgekehrt sind. Sie haben Zugang zu den ethnischen Kolonien, da sie sich aus ihnen heraus gebildet haben und in ihnen, mit ihnen und für sie ihre Arbeit durchführen. Das wiederum bedeutet, daß sie die Probleme aus erster Hand kennen und sind auch in der Lage Lösungsansätze zu liefern.
Sie betätigen sich in der Sozialarbeit meistens als Ehrenamtliche, selbst wenn sie “nur” emotionale oder informative Unterstützung geben können, d.h. sie halten vertrauensvolle Beziehungen aufrecht, die das Selbstwertgefühl stärken, oder geben Ratschläge und vermitteln Informationen. In den wenigsten Fällen sind sie, wie schon oben erwähnt, in der Lage, die volle instrumentelle Unterstützung zu bieten. Diese beinhaltet neben den Dienstleistungen, die von den Selbstorganisationen ehrenamtlich zur Verfügung gestellt werden, auch materielle Hilfen in Form von Geld- und Sachmitteln. Die sozialen Netzwerke der alten Arbeitsmigranten (Familie, Selbstorganisation) sind Netzwerke mit eingeschränkten materiellen Mitteln. Zugleich, obwohl sie es anstreben, haben sie unzureichenden Kontakt zu den öffentlichen, formellen Versorgungssystemen. Im Zuge der allgemeinen Sparmaßnahmen in diesen Bereichen kommt den Selbstorganisationen aber noch eine wesentlich höhere Bedeutung zu. Sie fangen mit ehrenamtlicher Arbeit das auf, was die öffentliche Hand kürzt. Auch die Politik erkennt diesen Umstand immer mehr und richtet auf die Spezifizität von Selbstorganisationen ausgerichtete Haushaltstitel ein. Dieses ist sicherlich auch das Resultat jahrelanger Bemühungen, die speziellen Bedürfnisse und Anforderungen von Migranten der Öffentlichkeit und vor allen Dingen der Politik gegenüber aufzuzeigen und zu vertreten, aber auch ohne Zweifel das Ergebnis der «knappen Kassen»…
Zu ihrem Selbstverständnis gehört die Aufrechterhaltung bzw. Entwicklung der eigenen Kultur und Identität, Bereiche die das Wohlbefinden der älteren Migranten fördern. Um dieses aber Angesichts der steigenden Zahl von älteren Migranten zu gewährleisten, sind zusätzliche professionelle Hilfen und öffentliche Unterstützungsleistungen notwendig. Dabei müssen drei Punkte gesichert werden:
- Förderung der sozialen Integration älterer Migranten im selbstgewählten Milieu.
- Stärkung des ethnischen und familiären Selbsthilfepotentials;
- Gewährleistungen von Dienstleistungen und Gütern des öffentlichen Versorgungssystems.
4.2. Formelle Netzwerke
Auch die formellen Netzwerke der Altenversorgung und -hilfe sehen sich mit neuen Aufgaben konfrontiert, da die stetig wachsende Zahl von alten und älteren Arbeitsmigranten ebenso über einen Versorgungsanspruch verfügt wie andere Bevölkerungsschichten. Die Erwartungen und Bedürfnisse der zu versorgenden Migrantenbevölkerung entsprechen aber nicht immer den bereits bekannten der einheimischen Bevölkerung. Es gibt hierbei einige Punkte, die bei Planungen und Umstellungen im Rahmen der klassischen Altersversorgung besonders beachtet werden müssen. Das fängt mit dem engeren Familienzugehörigkeitsgefühl an und geht über eine mit anderen Elementen angereicherte Kultur, bis hin zur Religion und Sprache. Die Möglichkeiten sind hier äußert vielfältig.
Eine Prämisse der Altenversorgungspolitik muß die Bereitstellung aller notwendigen Mittel sein, ohne die Individualität der alten Migranten und ihrer Besonderheiten zu übergehen. Der Respekt partikulärer Besonderheiten und Bedürfnisse sowie der ethnischen Identität ist Voraussetzung für eine Zielgruppenorientierte, d.h. effiziente Altenpolitik. Dabei sind unseres Erachtens einige Punkte zu berücksichtigen.
Die Inanspruchnahme von Leistungen verschiedener Institutionen ist nicht immer gewährleistet, obwohl ein Anspruch darauf besteht. Grund hierfür ist einerseits ein Informationsdefizit, welches bei der ersten Generation zum größten Teil sprachlich begründet ist, und andererseits eine gewisse Zurückhaltung, solche Dienste in Anspruch zu nehmen, da das Bewußtsein des Anspruches darauf nicht so ausgebildet ist. Erste Probleme treten schon dann auf, wenn die Institutionen durch den erhöhten Bedarf der einheimischen Bevölkerung einer hohen Belastung ausgesetzt sind, und die Migranten mit den Einheimischen in Konkurrenz treten. Hinzu kommt die dramatische demografische Entwicklung der letzten Jahre, die mit der Zunahme der einheimischen Altenpopulation einhergeht und die damit im direkten Zusammenhang stehenden Kürzungen im Sozialetat. Es entsteht eine Notstandsstimmung, die wenig Raum für andere Bedürfnisse läßt, als die, die die Majorität kennzeichnet.[10] Es macht aber wenig Sinn zu glauben, daß die formellen Netzwerke der Altenversorgung und Altenhilfe sich jemals auf die nicht homogene Gruppe der alten Migranten mit ihrer Vielfältigkeit einstellen will und kann. Die einzige Möglichkeit ein menschliches Älterwerden, vor allem der alleinstehenden älteren Migranten, zu gewährleisten, ist die Verknüpfung der formellen mit den informellen Netzwerken zu fordern, zu fördern und zu unterstützen.
Das zukünftige Problem wird sein, den reibungslosen Eintritt ins Rentenalter für die älteren Migranten, die weiterhin in der Bundesrepublik verbleiben, zu sichern. Desweiteren müssen ihnen mit Hinblick auf ihre spezifischen Bedürfnisse alle Möglichkeiten der Altenhilfe und Betreuung gesichert werden. Dazu sind folgende Maßnahmen notwendig:
- Eine transparente Informationspolitik.
- Fachkräfte und Träger von Dienstleistungen der formellen Netzwerke müssen Kenntnisse über migrationsspezifische Probleme haben. Dies muß einerseits schon in die Ausbildung eingebaut werden, als auch mittels Fortbildungen ermöglicht werden.
- Bei der Planung der Versorgung von Migranten sind sie selbst und ihre Vertreter einzubeziehen. Es muß also eine Partizipation gegeben sein, sowohl bei der Programmgestaltung als auch bei der Umsetzung. D.h. Selbstorganisationen und formelle Migrationsberaterdienste müssen als gleichberechtigte Partner angesehen werden.
- Förderung und Unterstützung der Selbstorganisationen mit dem Ziel einer immer größer werdenden Altenarbeit; sowohl national als auch multinational ausgerichtet. Dieses beinhaltet selbstverständlich die Bereitstellung der dafür notwendigen Infrastrukturelemente.
- Förderung der Ausbildung und des Einsatzes von Migranten in den formellen Netzwerken.
- Selbstpflegende Familienmitglieder müssen entsprechend geschult und unterstützt werden.
- Hierfür muß eine Sensibilisierung bei Trägern und Fachkräften der formellen Netzwerke erfolgen.
- Die Vernetzung von formellen und informellen Netzwerken ist voranzutreiben.
- Um das Problem besser zu erfassen, sind Erhebungen und Auswertungen von Statistiken notwendig, aus der die Lage älterer Migranten ersichtlich besser und konkreter wird. Hier ist die Einmischung der Selbstorganisationen besonders wichtig, denn sie genießen unter den Migrantengruppen die erforderliche Akzeptanz, die zur Durchführung solcher Untersuchungen nötig sind.
- Die Gruppe der älteren Migranten und ihre Bedürfnisse müssen in der kommunalen Sozialplanung genauso berücksichtigt werden wie ältere Deutsche.
5. Wohlfahrtsverbände
Neben den Einrichtungen des Regelversorgungssystems sind auch die sogenannten Betreuungsverbände unter den Wohlfahrtsverbänden für die Versorgung von älteren Migranten von großer Bedeutung. Abgesehen von den Selbstorganisationen verfügen sie über die größte Erfahrungen mit migrationsspezifischen Problemen. Sie sind in zweierlei Hinsicht in die Problematik der älteren und älterwerdenden Migranten eingebunden. Zum einen haben sie als Träger der freien Wohlfahrtspflege die Aufgabe der sozialen Versorgung der Bevölkerung übertragen bekommen, also auch die von Senioren. Und zum anderen wurden die Migranten zwecks Betreuung bei ihrer Ankunft auf die verschiedenen Wohlfahrtsverbände verteilt und werden bis zum Ende dieses Jahrtausends weiterhin über das Monopol der nationalitätenspezifischen Sozialberatung verfügen. Die Kriterien bei der Verteilung angeworbenen Arbeitnehmer auf die Verbände folgen der konfessionellen Zugehörigkeit der jeweiligen Bevölkerung. So kamen z. B. die katholischen Spanier, Portugiesen und Italiener zur Caritas, das der evangelischen Kirche zugehörige Diakonische Werk nahm sich der Griechen an und die AWO der Menschen aus der Türkei. Wobei letzteres von Anfang an ein besonderes Problem darstellte, da davon ausgegangen wurde, daß alle Bürger der Türkei auch gleichzeitig türkischer Kultur und Sprache wären. Insbesondere den in die Bundesrepublik immigrierten Kurden, ihrer Sprache und ihrer Kultur wurde somit nicht Rechnung getragen.
5.1. Anforderungen der Wohlfahrtsverbände an die Politik
Auf und aus dem Hintergrund der Besonderheit der Migrationssitua-tion muß nach Dietzel-Papakyriakou und Obermann folgendes in der Arbeit mit älteren und älterwerdenden Migranten beachtet werden:
1. altersbedingter ethnischer Rückzug: Dieser Rückzug macht sich Insbesondere bemerkbar auf dem Gebiet der Sprache. Mit dem Erwerb der Rente geht, bedingt durch die extreme Reduzierung von Kontakten zur deutschen Bevölkerung, ein merklicher Verlust der deutschen Sprachkenntnisse einher. Gleichzeitig findet mit fortschreitendem Alter eine verstärkte Besinnung auf die aus der Heimat mitgebrachten Werte und Orientierungsmuster statt;
2. auf Rückkehr ausgerichteter Lebensentwurf
3. materielle und gesundheitliche Ressourcen (Soziales Netz im Heimatland, Exportabilität von Sozialleistungen)
Daraus ergeben sich notwendigerweise für die Arbeit der Wohlfahrtsverbände auf dem Gebiet der Regelversorgung eine Reihe von Forderungen, für die bereits schon konkret formulierte Ansätze bestehen. Ihre Position zu dem Thema alte Migranten haben die Wohlfahrtsverbände mit den dazugehörigen Empfehlungen und Forderungen bereits 1996 zu Papier gebracht.
Die Anforderungen an die Politik basieren im wesentlichen auf der Ausgestaltung der politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen. In der Hauptsache, daß ”Ausländischen Rentner/innen […] Leistungen nach BSHG eingeräumt werden [müssen], ohne daß deren Aufenthaltsstatus gefährdet wird.”, denn für das geltende Aufenthaltsrecht ist der Bezug von Sozialhilfe ein besonderer Ausweisungsgrund. Daraus ergibt sich auch die Forderung nach einem Rechtsanspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe für Behinderte und ein Sollanspruch auf Leistungen der Altenhilfe.
Die Anforderungen an die sozialen Dienste und Einrichtungen wurden bereits weiter oben im Rahmen der Forderungen der BAGIV vorgestellt. Die der Wohlfahrtsverbände stimmen weitgehend überein. Hervorzuheben wäre, daß auch die Wohlfahrtsverbände interessanterweise für folgende Punkte eintreten:
- ”Die politische Interessenvertretung alter Migranten in Beiräten muß gestärkt werden.”
- “Die Arbeit von Selbsthilfeorganisationen, -vereinen und -initiativen von Migranten ist zu fördern.”
- “Die Öffentlichkeit muß ausgebaut und qualifiziert werden, um die Belange alter Migranten stärker zur Geltung zu bringen.”
Die in näherer Zukunft bevorstehende Aufhebung der ”Exklusivität” der Sozialberatung für die Betreuungsverbände unter den Wohlfahrtsverbänden ist sicherlich ein Schritt in die richtige Richtung, auch wenn die Möglichkeiten der Finanzierung, die sich hiermit für Selbstorganisationen eröffnen immer noch nicht ihre konkrete finanzielle Ausgangslage, sehr reduziert bzw. inexistente Eigenmittel, bedenken. So wird erst einmal von der Bestandssicherung für die klassischen „Betreuungsverbände“ ausgegangen. Neueinsteigern wird nur eine Teilfinanzierung zugestanden und härtere Konditionen bei der Einstellung von Fachpersonal zugemutet. An dieser Stelle ist ein differenzierende Betrachtungsweise in Bezug auf die Wohlfahrtsverbände notwendig. Insbesondere der «Sonderrolle» des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes sollte Rechnung getragen werden. Da dieser sogenannte kleinste der großen Wohlfahrtsverbände keine Sozialberatung durchführte und durch seinen besonderen Aufbau in keinster Weise zentralistisch gebunden ist, konnte sich hier eine andere Art von Migrationsarbeit etablieren. Im Paritätischen sind Migrantenselbstorganisationen Mitglied und bestimmen die Politik des Gesamtverbandes auf diesem Gebiet mit, da diese ja die Interesse seiner Mitglieder widerspiegeln sollte.
6. Schlußbetrachtung
Die migrationsspezifischen Anforderungen an die Gesellschaft und ihre Institutionen sind vielfältig. Das wichtige hierbei ist, daß sie nicht nur die in der Bundesrepublik Deutschland verbliebenen Migranten betreffen. So dürfen die in ihr Heimatland Zurückgekehrten aber auch die Pendlern keine Nachteile gegenüber den Hiergebliebenen und Deutschen ausgesetzt sein. Einer der wichtigsten Punkte ist der bereits aufgezeigte Anspruch auf die Pflegeversicherung im Heimatland. Die Entscheidung des EuGH zu diesem Thema kann sicherlich auch Auswirkungen auf die Rückkehroption und -bereitschaft haben und somit die Regelversorgung in der Altenhilfe und -versorgung in der Bundesrepublik Deutschland entlasten.
Aber auch für die in der Bundesrepublik verbliebenen Migranten muß genauso «gesorgt» werden wie für die Deutschen. Natürlich kann davon ausgegangen werden, daß ähnlich wie bei der deutschen Bevölkerung nicht alle älteren Migranten die Altenhilfe in Anspruch nehmen werden. Nichtsdestotrotz sollte die Regelversorgung aber entsprechende Angebote für diese Gruppe zur Verfügung stellen, deren Nachfrage in Zukunft sicher steigen wird. Hier können die notwendigen Leistungen am besten in Zusammenarbeit mit den informellen Netzwerken gewährleistet werden. Die Punkte, die dabei beachtet werden müssen, wurden bereits genannt. Nur so wird humanes und vor allen Dingen menschenwürdiges Altern in der Bundesrepublik für die Migranten möglich sein. Es handelt sich hierbei sicherlich um eine Forderung, mit der sich alle sozialen und politischen Kräfte im Land einverstanden erklären sollten. Insbesondere wenn man die Dienste bedenkt, die diese Menschen für den Aufbau und die Existenz des heutigen Deutschlands geleistet haben.
Die Rolle der Selbstorganisationen ist für eine erfolgreiche Durchführung der Altmigrantenarbeit von enormer Wichtigkeit. Die Netzwerke und die Infrastruktur der Selbstorganisationen in Verbindung mit der Erfahrung und den Erkenntnissen sowie der Akzeptanz seitens der Migranten und Migrantinnen machen sie zu unentbehrlichen Akteuren und glaubwürdigen Partnern einer modernen, sozialen und gerechten Altenpolitik.